Jeden Tag als Führungskraft unterwegs zu sein, kann sich anfühlen wie ein Marsch durch den Dschungel: Überall lauern neue Herausforderungen, Erwartungen und Überraschungen. du sollst Vorbild sein, Leistung einfordern, Visionen entwickeln, Ergebnisse kontrollieren, Mitarbeiter fördern und ans Unternehmen binden – und natürlich für alle ein offenes Ohr haben und nebenbei eine beneidenswerte Work-Life-Balance vorleben. Was für eine Herkulesaufgabe!
Kein Wunder, dass die Attraktivität von Führungspositionen vielerorts sinkt. Doch statt die Machete zu schwingen und irgendwie den Weg freizukämpfen, lohnt es sich, innezuhalten und das eigene Rollenverständnis zu klären. Denn mit einer klar definierten Rolle hast du zwar immer noch einen Dschungel um dich herum – aber du hast eine Landkarte in der Hand, die Orientierung gibt.
Wenn die Rolle nicht klar ist, drohen Irrwege
In der Praxis wird Rollenklarheit leider oft als gegeben angenommen und selten aktiv hinterfragt. Ich erlebe es immer wieder: Ein Geschäftsführer ruft mich an, weil sein Team „nicht richtig funktioniert“. Wenn wir dann gemeinsam hinschauen, stellt sich heraus, dass niemand so richtig weiß, wer eigentlich wofür zuständig ist. Liegenbleibende Aufgaben, unerfüllte Erwartungen, Kollegen, die ständig einspringen müssen, weil keiner sich offiziell zuständig fühlt.
Viele Probleme in Unternehmen haben ihren Ursprung genau hier: Rollen und die damit verbundenen Verantwortlichkeiten werden vorausgesetzt oder falsch eingeschätzt. Wird Rollenklarheit nicht regelmäßig geprüft, führt das auf individueller Ebene zu Verunsicherung, Überlastung oder Minderleistung und im Team zu verzerrten Verantwortlichkeiten, fehlender Verbindlichkeit und letztlich Unwirksamkeit. Kommt dir sowas bekannt vor? Dann ist es höchste Zeit, die Nebel zu lichten und für klare Verhältnisse zu sorgen.
Auch die Wissenschaft bestätigt, wie problematisch unklare Rollen sind: Je unklarer die Rolle, desto unwohler fühlen sich Menschen im Job und desto schlechter können sie performen. Fehlen klare Erwartungen, leidet die Motivation und das Engagement. Umgekehrt geht hohe Rollenklarheit mit signifikant höherer Arbeitszufriedenheit und geringerer Fluktuation einher. Mit anderen Worten: Unklare Rollen sind keine Lappalie, sondern ein echter Produktivitäts- und Kulturkiller.
Was ist eine Rolle? Ein Bündel von Erwartungen
Bevor wir klären, wie du deine Rolle schärfen kannst, lohnt ein Blick darauf, was „Rolle“ im organisatorischen Kontext überhaupt bedeutet. Eine berufliche Rolle ist kein festgeschriebener Titel auf der Visitenkarte, sondern ein Set an Erwartungen, das an eine Position geknüpft ist. Diese Erwartungen stammen von verschiedenen Seiten: von deinen Vorgesetzten, deinen Mitarbeitern, deinen Kollegen – und nicht zu vergessen, von dir selbst.
Sie speisen sich aus formalen Vorgaben (etwa was in deiner Stellenbeschreibung steht) und informalen Aspekten wie ungeschriebenen Regeln und der Unternehmenskultur. Oft ergibt sich daraus ein komplexes Spannungsfeld: deine Mitarbeiter erwarten vielleicht Unterstützung und klare Entscheidungen, dein Chef erwartet strategische Ergebnisse, Kunden erwarten Zuverlässigkeit und schnelle Reaktion, Kollegen erwarten Kooperation – und du selbst hast ebenfalls den Anspruch, gewissen Werten und Zielen gerecht zu werden.
Letzte Woche erst hatte ich einen Klienten, einen Abteilungsleiter in einem Familienunternehmen, der völlig zerrissen war: Seine Mitarbeiter erwarteten von ihm, dass er sie vor zusätzlichen Aufgaben schützt. Gleichzeitig erwartete die Geschäftsführung, dass er flexibel auf neue Anforderungen reagiert. Er fühlte sich wie zwischen den Stühlen gefangen – bis wir gemeinsam diese verschiedenen Erwartungen transparent gemacht und prioritisiert haben.
All diese Facetten bilden zusammen die Rolle, in die du als Führungskraft „schlüpfst“. Dieses Bild des „Schlüpfens in eine Rolle“ zeigt schon: Die Rolle ist etwas, das du bewusst einnehmen und gestalten kannst – du bist nicht deine Rolle, sondern du spielst eine Rolle (im positiven Sinne). Genau das gibt dir die Freiheit, aktiv an deinem Rollenverständnis zu arbeiten.
Es bedeutet aber auch, dass du nicht automatisch alle Erwartungen kennen kannst, die mit deiner Führungsrolle einhergehen. Vieles bleibt unausgesprochen und ergibt sich aus der Dynamik von Aufgaben, Strukturen und Kultur deines Unternehmens. Deshalb ist es umso wichtiger, Klarheit über die zentralen Erwartungen an dich zu gewinnen – und zwar sowohl über die Erwartungen anderer als auch über deine eigenen.
Die eigene Rolle klären: Verantwortlichkeiten, Aufgaben und Kompetenzen
Rollenklarheit kommt nicht von allein – man muss sie aktiv herstellen. Ein guter Ausgangspunkt dafür ist, schwarz auf weiß festzuhalten, wo deine Verantwortungsbereiche liegen und wo nicht. Frage dich: Für welche Ergebnisse oder Bereiche trage ich die Verantwortung? Ebenso wichtig: Wofür bin ich nicht (mehr) verantwortlich?
Es klingt banal, aber diese Abgrenzung fällt vielen schwer. Als Führungskraft hat man schnell das Gefühl, für alles zuständig zu sein – doch genau das führt in die Überlastung. Hier darfst (und musst) du bewusst Grenzen ziehen.
Der zweite Aspekt betrifft die Aufgaben: Welche konkreten Tätigkeiten gehören zu deinen Verantwortlichkeiten? Und welche Aufgaben gehören nicht (mehr) auf deinen Tisch, weil sie delegiert werden können oder sollen? Viele Führungskräfte erwischen sich dabei, alte operative Aufgaben mitzuschleppen, die eigentlich gar nicht mehr Teil ihrer Rolle sein sollten.
Ich kenne einen Geschäftsführer, der immer noch persönlich jede Rechnung gegengezeichnet hat – aus Gewohnheit von früher, als das Unternehmen noch klein war. Heute mit 50 Mitarbeitern war das längst nicht mehr seine Aufgabe, sondern kostete ihn täglich wertvolle Zeit für strategische Themen.
Mach dir klar: dein Job ist es, den Überblick zu behalten und Rahmenbedingungen zu schaffen, nicht jedes Detail selbst zu erledigen – außer es geht wirklich nicht anders.
Drittens geht es um Kompetenzen und Entscheidungsbefugnisse. Kläre für dich und mit deinem eigenen Chef: Welche Entscheidungen darf ich eigenständig treffen, in welchem Umfang habe ich Budget- oder Personalhoheit? Wo liegen die Grenzen meiner Befugnisse? Ebenso: In welchen Fällen muss ich Rücksprache halten oder mir eine Freigabe einholen?
Dieser Punkt wird in der Hektik des Alltags gern übergangen, dabei ist er entscheidend. Nichts ist frustrierender, als Verantwortung für Ergebnisse zu tragen, aber nicht die nötigen Entscheidungsrechte zu haben – oder umgekehrt: Entscheidungen treffen zu sollen, ohne wirklich verantwortlich zu sein. Klare Vereinbarungen über deine Entscheidungsspielräume schaffen Sicherheit – für dich und alle Beteiligten.
Die vier Dimensionen klarer Verantwortung
Ein hilfreiches Modell aus der systemischen Organisationsentwicklung sind die vier A’s der Verantwortung – vier Fragen, die du für dich beantworten (und mit deinem Umfeld besprechen) solltest:
Antworten zu wollen: Bin ich motiviert und bereit, die mit meiner Rolle verbundenen Aufgaben und Verantwortung wirklich zu übernehmen? (Stichwort Commitment – stehe ich mit Überzeugung hinter meiner Rolle?)
Antworten zu können: Habe ich die nötigen Fähigkeiten und Ressourcen, um meine Rolle auszufüllen? Wenn nein, was brauche ich an Weiterbildung oder Unterstützung?
Antworten zu dürfen: Besitze ich die notwendigen Befugnisse und Freiräume, um in meiner Rolle handeln zu können? (Bin ich von oben ausreichend ermächtigt? Habe ich Zugang zu Informationen, Budget, Entscheidungsmacht?)
Antworten zu müssen: Ist klar umrissen, wofür ich zuständig bin? Wissen alle – inklusive ich selbst – welche Entscheidungen und Aufgaben auf meinem Tisch landen müssen und was passiert, wenn ich meine Zuständigkeit nicht wahrnehme?
Wenn du ehrlich alle vier Fragen mit „Ja“ beantworten kannst, stehen die Ampeln für ein klares Rollenprofil schon mal auf Grün. In der Realität wird es hier und da ein gelbes Licht geben – dann heißt es, genauer hinzuschauen: Vielleicht mangelt es noch an einer Kompetenz (Zeit für Training), vielleicht sind Befugnisse unklar (Zeit für ein Gespräch mit dem Chef), oder es hapert am Wollen (dann muss man die eigenen Motive oder Rahmenbedingungen hinterfragen). Wichtig ist, die Lücken zu kennen und anzugehen.
Scheue dich nicht, aktiv Klarheit einzufordern, wenn etwas im Ungewissen bleibt. Gerade beim Übernehmen einer neuen Führungsrolle sollte man so früh wie möglich herausfinden, welche zentralen Erwartungen an einen gestellt werden – und wenn nötig bei den Vorgesetzten nachhaken und präzisieren. Diese Klärung ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Professionalität. Durch gezieltes Nachfragen und Abstecken deines Verantwortungsbereichs stärkst du letztlich deine Position, weil du allen Beteiligten Sicherheit gibst, was sie von dir erwarten können (und was nicht).
Deine persönliche Rollenlandkarte
Ein praktischer Tipp: Erstelle deine persönliche Rollenlandkarte. Zeichne (ruhig wörtlich auf Papier oder digital) die wichtigsten Erwartungsgeber um dich herum – z.B. Geschäftsführung, eigene Führungskraft, Mitarbeiter-Team, wichtige Kunden oder Partner – und notiere dazu deren Erwartungen an dich. Daneben schreibst du, was du von ihnen brauchst. Markiere deine Hauptverantwortlichkeiten, Aufgaben und Befugnisse.
Dieses visuelle Rollenprofil dient dir als Kompass im Arbeitsalltag: In turbulenten Zeiten kannst du darauf schauen und dich erinnern, wo dein Weg langgeht. Und keine Sorge – diese Landkarte ist kein statisches Kunstwerk fürs Museum, sondern eher wie eine aktuelle Straßenkarte, die regelmäßig erneuert wird.
Rollen verändern sich mit der Zeit und sollten immer wieder angeschaut, überprüft und weiterentwickelt werden, etwa wenn sich Unternehmensziele oder Strategien ändern. Plane also bewusst Reflexionszeiten ein, in denen du deine Rolle updatest: Passt mein Rollenverständnis noch zu den aktuellen Anforderungen? Sind neue Erwartungen hinzugekommen? Habe ich Befugnisse gewonnen (oder verloren)? Diese kontinuierliche Anpassung hält deine „Landkarte“ aktuell und dich auf Kurs.
Viele Hüte: Die verschiedenen Rollen einer Führungskraft
Eine Besonderheit als Führungskraft ist, dass du häufig mehrere Rollen zugleich innehast – und zwar je nach Situation unterschiedlich gefragt. du bist nicht nur der disziplinarische Vorgesetzte, sondern vielleicht auch Mentor für Nachwuchskräfte, Coach in Mitarbeitergesprächen, Experte in bestimmten Fachfragen und Moderator bei Konflikten. Diese Vielseitigkeit gehört zum Führungsalltag dazu und erfordert eine gewisse Rollenflexibilität. Wichtig ist jedoch, die jeweilige Rolle bewusst zu wählen und kenntlich zu machen, um Erwartungen nicht zu enttäuschen.
Aus den unterschiedlichen Erwartungen deiner Mitarbeitenden und deines Unternehmens resultieren unterschiedliche Verhaltensweisen, die je nach Situation funktional sind. So fordert z.B. in manchen Fällen die Erwartung deiner Leute an dich nicht die Rolle „Coach“, sondern eher die Rolle „Fachberater“ oder „Mentor“ – etwa wenn erfahrene Teammitglieder konkrete fachliche Ratschläge und Antworten von dir erwarten.
In anderen Momenten bist du eindeutig der „Linienvorgesetzte“, der Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen muss (z.B. bei Gehaltsrunden oder Freigaben). Und dann gibt es wieder Situationen, in denen tatsächlich der „Coach“ in dir gefragt ist – nämlich dann, wenn Mitarbeiter vor Herausforderungen stehen, an denen sie wachsen sollen, und eher gute Fragen statt fertige Lösungen brauchen.
Ich hatte mal einen Klienten, einen Abteilungsleiter im Maschinenbau, der immer in der Rolle des Fachexperten gefangen war. Wenn Mitarbeiter mit Problemen kamen, lieferte er sofort die Lösung – schließlich kannte er sich am besten aus. Das Problem: Seine Leute lernten nichts dazu und kamen bei jedem kleinen Problem wieder zu ihm. Erst als er lernte, bewusst zwischen den Rollen zu wechseln – mal Fachexperte, mal Coach, mal Entscheider – entwickelte sich sein Team weiter.
Diese Rollen können sich überschneiden, und es ist nicht immer scharf trennbar, wo die eine aufhört und die andere anfängt. Aber es hilft ungemein, sich dieser Rollen bewusst zu sein. du kannst dir dein Rollenrepertoire vorstellen wie einen Werkzeugkasten: Unterschiedliche Probleme erfordern unterschiedliches Werkzeug. Je klarer du dein eigenes Spektrum an Führungsrollen definiert hast, desto gezielter kannst du das passende „Werkzeug“ ziehen.
Und es schadet auch nicht, das transparent zu machen: deine Mitarbeiter dürfen ruhig wissen, wann du in welcher Rolle agierst. Zum Beispiel könntest du sagen: „Lass mich dir kurz als Mentor antworten…“ oder „Dazu muss ich jetzt als euer Chef eine Entscheidung treffen.“ Solche Klarheit beseitigt Missverständnisse.
Zudem musst du als Führungskraft darauf achten, dich nicht mit einer einzigen Rolle zu stark zu identifizieren, sonst wirst du unflexibel. Wer sich zum Beispiel nur als der Fachexperte sieht, tut sich schwer, Aufgaben loszulassen und im Tagesgeschäft mal nicht der Allwissende zu sein. Wer sich nur als der Kümmerer versteht, verliert womöglich die strategischen Ziele aus dem Blick.
Authentische Führung heißt nicht, immer gleich zu agieren, sondern den Kontext zu berücksichtigen. Ein System (Team, Abteilung, Unternehmen) stellt je nach Zustand andere Anforderungen. Wirksame Führungskräfte können zwischen Rollen wechseln, ohne ihre Identität zu verlieren – sie wissen, wann welche Rolle gefragt ist, und können diese situativ einnehmen. Das erfordert Übung und Selbstreflexion, zahlt sich aber in Form von Akzeptanz und Vertrauen aus.
Rollenklarheit im Team
Übrigens: Rollenklarheit im Team ist ebenso wichtig. Als Chef bist du nicht nur für dein eigenes Rollenverständnis verantwortlich, sondern auch dafür, dass deine Mitarbeiter ihre Rollen verstehen. Klare Zuständigkeiten, definierte Schnittstellen und Transparenz darüber, wer wofür da ist, sind die Basis für gute Zusammenarbeit.
Viele Konflikte und Doppelarbeiten entstehen, weil diese Klarheit fehlt. Daher lohnt es sich, auch im Team Workshops oder Gespräche zur Rollenklärung zu führen. Es entlastet dich zudem, wenn jeder im Team seine Rolle kennt und ausfüllt – dann musst du nicht ständig Feuerwehr spielen.
Fazit: Klarheit zahlt sich aus
Führung ist und bleibt kein Spaziergang auf geradem Weg, sondern eher eine Expedition durch dichtes Gelände. Aber wenn du dein Rollenverständnis geschärft hast, hast du zumindest eine Landkarte im Gepäck, die dir die Orientierung erleichtert. Natürlich lösen sich dadurch nicht alle Probleme in Luft auf – der Dschungel bleibt der Dschungel – doch du wirst deutlich seltener vom Weg abkommen oder im Kreis laufen.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle ist anspruchsvoll und hört eigentlich nie auf, aber sie lohnt sich. Denn wenn du deine Rolle klar definiert (und immer wieder aktualisiert) hast, profitieren alle davon: du selbst fühlst dich wohler und handlungsfähiger, dein Team weiß, woran es ist, und das gesamte Unternehmen erfährt fokussiertere, effektivere Führung.
Persönliches Wohlbefinden und geschäftlicher Erfolg beginnen genau hier, indem klare Rollen dafür sorgen, dass alle am selben Strang ziehen – in die richtige Richtung. Kurz gesagt: Es ist zwar eine Herausforderung, aber es lohnt sich, die eigene Rolle als Führungskraft klar zu definieren – denn im Dschungel der Erwartungen ist eine gute Landkarte Gold wert.